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Welche politische Bildung ... ?
Welche politische Bildung ... ?

Welche politische Bildung brauchen wir in Deutschland?

Selbstaufklärung statt Bildung von »oben«

Von Andreas Merkens

Welche politische Bildung brauchen wir? Gehen wir die Debattenfrage mit einem historischen Rückblick an: Der Soziologe Michael Vester hat in einer umfangreichen Studie die Bildungserfahrungen der ersten Arbeiterbewegung in England (1792-1848) studiert. Seine sozialgeschichtliche Untersuchung beschreibt die Herausbildung von proletarischer Bewe- gung und frühsozialistischer Theorienbildung als eine in »Lern- und Kampfzyklen« fortschreitende Rückkoppelung von Theorie und Praxis.
Dabei bestand die historische Lernleistung in der Entstehung der Arbeiterbewegung von einer zunächst unbestimmten antikapitalistischen Strömung, die ausgesprochen heterogene theoretische und praktische Initiativen umfasste, zu einer Bewegung mit kollektivem Selbstverständnis, die sich als sozialistisch und antagonistisch zur bestehenden Ordnung artikuliert und eigenständige Kommunikations- und Bildungsstrukturen aufbaut.
Nun stellte sich das Zusammenspiel von Lernerfahrung und politischem Handeln freilich nicht als eine kontinuierlich- progressive Entwicklung dar, vielmehr gingen politische Niederlagen immer auch mit regressiven Lernprozessen einher, die in Entpolitisierung und Apathie umschlugen. Von entscheidender Bedeutung für die Fähigkeit der Bewegung, diese Rückschläge dennoch aufzufangen, zu lernen also, erwies sich die Kompetenz, die intellektuelle Formierung in Rückkop- pelung zu den praktischen Erfahrungen und Alltagskämpfen zu gestalten.
Angesichts der Realgeschichte der Arbeiterbewegung, erscheint uns die hier beschriebene Periode als ein historischer Glücksfall. Mit der fortschreitenden Institutionalisierung und Bürokratisierung der Bewegung, der Etablierung einer zunehmend autoritären Parteistruktur, wurde die produktive wechselseitige Durchdringung von Bildung und politischer Praxis zur Ausnahme. Politische Bildung funktionierte vielmehr nach dem paternalistischen Muster der Armenspeisung: die »Wissenden« verteilten an die »Unwissenden« ihre Gaben in Form von Lehrsätzen und Richtlinien.
Peter Weiss hat in seinen Notizbüchern hierfür die Formulierung von der »atavistischen Bevormundung« geprägt. Er erkannte im »Scheitern der organisierten Arbeiterbewegung die Geschichte eines unausgeschöpften Bildungsvermögens der Unterworfenen«. In seinem Debattenbeitrag für diese Zeitung hat Dieter Schlönvoigt (ND vom 13.7) die von Weiss als historischen Gegenentwurf skizzierte »Linie Luxemburg-Gramsci« aufgegriffen und als richtungsweisend für eine auf die »Selbstentfaltungspotenziale der Menschen« setzende politische Bildung benannt.
Die Repliken auf seinen Beitrag von Wolfgang Schallehn und Herbert Schwenk (im ND vom 20.7.) nehmen diesen Vorschlag wenn überhaupt nur fragmentarisch auf oder aber missverstehen ihn an vielen Stellen. Der emanzipatorische Gebrauchswert, den die Aneignung der »Linie Luxemburg-Gramsci« für die politische Bildung verspricht, wird so leicht- fertig aus der Hand gegeben.
Das Denken und die politische Praxis von Rosa Luxemburg wie auch von Antonio Gramsci findet einen gemeinsamen Dichtepunkt in dem praktischen Wissen um die von Vester am Beispiel der frühsozialistischen Bewegung beschriebene, historische Wirkmächtigkeit von Lehr- und Lernprozessen. Ausgangspunkt sind die Dynamiken des politischen Umbruchs und der proletarischen Revolte, die in den Revolutionsjahren 1918-20 von den kapitalistischen Zentren Europas aus- gehen.
Gramsci, in Italien führender Aktivist der Turiner Rätebewegung, begeistert sich für die Praxis der Fabrikräte. Er macht in ihnen eine Kultur autonomer Produzenten aus, die zugleich als Bildungsbewegung wirkend ein ungeahntes Bewusstseins- und Handlungspotenzial unter den Arbeitern freisetzt. Für Luxemburg ist die Novemberrevolution der Ausdruck einer geistigen Emanzipation des Proletariats. Sie betont mit Nachdruck die Wirkmächtigkeit der praktischen Initiative, der tätigen Erfahrung im Klassenkampf, als Selbstbildung der Arbeiterklasse.
Bei beiden treffen wir auf eine politisch-pädagogische Grundlinie, die mit der Vorstellung einer edukativen Arbeiterbildung von oben bricht, in der das Erfahrungswissen der alltäglichen Kämpfe entwertet wird. Emanzipatorische Klassenbildung wird vielmehr als ein Werden verstanden, das wesentlich auf dem Prozess der erzieherischen Selbstermächtigung und -aufklärung gründet, das den wechselseitigen Bedingungszusammenhang von Bildung und politischer Praxis konstitutiv voraussetzt.
Vor allem Gramsci hat uns auf die Notwendigkeit einer eigenständigen institutionell getragenen Kultur und Lebensweise hingewiesen, in der Bildung als gesellschaftsverändernde Praxis auch tatsächlich wirksam werden kann, in der pädago- gische Räume, Zeiten und Formen angeeignet werden und gesellschaftliche Erfahrungen in organisierte Lernprozesse übergehen.
Von Gramsci und Luxemburg können wir lernen, dass politischer Veränderungswillen immer auch als eine pädagogische Herausforderung der kollektiven Selbstbildung zu begreifen ist. Jede politische Kampagne, jede Diskussion um Strategien und Inhalte, also gemeinhin alle Organisations- und Praxisformen, die heute von sozialen Bewegungen ausgehen, sind auf ihre pädagogische Kompetenz zu hinterfragen, einen Prozess der gesellschaftlichen Mündigkeit zu unterstützen; ob hier historisch gewachsene Subalternität in eingreifende politische Handlungsfähigkeit überführt werden kann.
Die pädagogische Gestaltung von Politik wird folglich zur übergreifenden Anforderung an die alltägliche Binnenstruktur des Politischen, statt nur organisatorisch-inhaltlicher Teilbereich zu sein, in dem methodisch-didaktische Fragen an Bildungs- experten delegiert werden. Eine soziale Bewegung, die sich aus Erfahrungen und Alltagskämpfen generiert, die um eine alternative Welt- und Lebensfassung zu den bestehenden Verhältnissen ringt, wird sich in diesem Sinne immer auch als eine pädagogische Bewegung definieren müssen. Geht es doch um den Aufbau eines zivilgesellschaftlichen Handlungs- feldes, auf dem die Akteure sich »ein Bewusstsein von ihrem eigenen gesellschaftlichen Sein, ihrer eigenen Stärke« erarbeiten können, um als »notwendiges Moment der Umwälzung der Praxis die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig zu machen, eine Hegemonie zu zerstören und eine andere zu schaffen« (Gramsci).
07.09.07

Andreas Merkens hat Soziologie und Volkswirtschaftslehre studiert und ist heute Doktorand und Lehr- beauftragter an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied im Beirat des Rosa-Luxemburg-Bildungswerkes in Hamburg. Im Herbst erscheint das Buch: »Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis«, Hg. v. Andreas Merkens/Victor-Rego Diaz (ISBN 978-3-88619-425-4), Argument-Verlag